Vielerorts wird erwähnt, dass das berühmteste französische Gericht auf Henri IV von Navarra zurückgehe, jener der allen Bauern am Sonntag ein Huhn gönnte („Si Dieu me prête vie, je ferai qu’il n’y aura point de laboureur en mon royaume qui n’ait les moyens d’avoir le dimanche une poule dans son pot!“). So begeistert soll der französische König von den Bresse-Hühnern gewesen sein, dass er Bourg-en-Bresse sechs Monate lang belagerte. Die Stadt fiel schliesslich 1601 an Frankreich. Henri IV wurde 1610 durch den Königsmörder François Ravaillac in seiner Kutsche durch drei Messerstiche getötet.
Belegt ist diese Herkunft des Gerichts aber nicht. Wenn dieses französische Nationalgericht so weit in die Geschichte zurück gehen soll - manche behaupten sogar bis zu Cäsars Zeiten - so müsste es doch in den alten Kochbüchern erwähnt sein.
Noch im voluminösen Dictionnaire général de la cuisine française ancienne et moderne von 1853 findet das Gericht jedoch keine Erwähnung. Unter dem Schlagwort coq (Hahn) heisst es dort sehr bestimmt und eher abschätzig, dass dieser, ausser für die Zubereitung einer Bouillon, nichts in der Küche zu suchen habe: „Ce roi des gallinacées n'est d'aucun usage en cuisine, excepté pour en faire une sorte de consommé a qui les anciens dispensaires attribuent des vertus héroïques, et qu'ils désignent habituellements sous le nom de gelée de coq." Der Hahn spielte damit wohl eher eine Rolle in der regionalen Pharmakopöe, wie das auch heute noch in den traditionellen Medizin vieler ostasiatischer Länder - vor allem als Stärkungsmittel - der Fall ist.
Auch La Cuisine Classique von Urbaine Dubois und Emile Bernard, eine Rezeptsammlung von 1868, die dem preussischen Königspaar gewidmet war, kennt dieses Gericht nicht, obwohl einzuwenden wäre, dass in diesem Werk hauptsächlich die grossen Menus für die Könige der damaligen Zeit abgehandelt wurden und nicht die Gerichte der traditionellen Volksküche.
Ich habe weiter gesucht und das 1876 erschienene Kochbuch, La Cuisine Française, von A. Gogué gefunden, ancien chef des cuisines du Comte de Cayla, de Lord Melville etc., etc. Hier findet sich ein ausführliches Kapitel zum Geflügel. Im schwärmerischen beinahe poetischen Sprachduktus des französischen 19. Jahrhunderts wird über die Vorzüge der verschiedenen Geflügelarten geschrieben. Selbst die Kunst habe sich ihrer bemächtigt und - unter dem Vorwand ihrer Erhöhung - Märtyrer aus ihnen gemacht! Wer hätte sich nicht auf seinem Krankenbett, verdammt von seinem Arzt zu den strenge Regeln der Diät oder der einfachen Nahrung der Wüstenväter, nicht schon einmal gesehnt nach dem schön geschnittenen Flügelstück eines gut zubereiten Huhns? Über den coq au vin hingegen - keine Zeile!
Woran liegt das? Zwar hatte das Bürgertum als tiers état schon 1789 seine Rechte erstritten. Mit der industriellen Revolution in den grossen Städten war die Bourgeoisie in Frankreich zur stärksten ökonomischen Kraft empor gestiegen. Auch eine bürgerliche Kultur in Literatur, Musik und bildenden Künsten war in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts schon in voller Reife. Der coq au vin gilt heute denn auch als ausgeprochen bürgerliches Mahl.
Ist es bloss eine Legende, dass das Gericht bis auf Cäsar zurück gehe? Welcher wohlhabende Bürgerliche möchte sich denn mit einem zähen Hahn im Teller begnügen? Einen Hinweis auf den bäuerlichen, illiteraten Ursprung gibt die Geschichte der Bäuerin, die vor langer, langer Zeit ihren soeben geschlachteten Hahn aus Angst vor den Steuereintreibern in einem Weinfass versteckte und ihn erst nach mehreren Tagen wieder herausnahm. Schon dachte sie, er sei bereits verdorben. Als sie ihn aber kochte, da strömte das ganze Dorf herbei, angezogen vom wunderbaren Duft in der Küche.
Und tatsächlich - ich finde das 1906 erschiene Kochbuch von Edmond Richmond mit einem Rezept für den coq au vin. Die Zubereitung ist weitgehend dieselbe wie heute. Schon er empfiehlt indessen, den Hahn durch ein Hühnchen zu ersetzen, dessen Fleisch zarter sei. Und dankbar bin ich für seine Schlussbemerkung, wem er das Gericht zu verdanken habe:
La Belle Meunière habe es ihm verraten. Marie Quinton war Ende des 19. Jahrhunderts eine ehemalige Bäuerin, die ein Hotel mit einem Restaurant in Royat in der Auvergne führte. Ihr Übernahme war la belle meunière, wahrscheinlich in Anlehnung an Franz Schuberts Liederzyklus 'Die schöne Müllerin', den er 1823 komponiert hatte. Das historische Restaurant exisitert heute noch unter dem Namen La belle Meunière.
Richmonds Köchin war übrigens die einzige Vertraute der Liebschaft des Général Boulanger mit der Madame Marguerite. Georges Ernest Boulanger war eine Ikone seiner Zeit, ein Nationalist und Anti-Parlamentarier, ein Zeitlang war er Frankreichs Kriegsminister, der sich aber durch seine eigenen, teils irrationalen politischen Manöver ins Exil drängen liess und schliesslich 1891 am Grab seiner verstorbenen Geliebten Suizid beging.
Im selben Jahr wurde Emil Kraepelin auf den Lehrstuhl für Psychiatrie nach Heidelberg berufen. Dort blieb er über 20 Jahre und ging erst 1903 nach München, die als Lehrer, Forscher und Kliniker als seine wichtigste und produktivste Lebensphase angesehen werden muss.
Übrigens: 1906, dem Jahr des erstmaligen Erscheinens eines Rezepts für coq au vin, hielt Alois Alzheimer, erstmals seinen Vortrag 'Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde'.
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