Dienstag, 1. Oktober 2013

Faszination Psychiatrie heute

Im blog.dasmagazin.ch erzählt der Psychiater Benjamin Dubno über die Psychiatrie in Japan folgende Geschichte: die Anreizsysteme seien in der Medizin oft falsch gesetzt. Die Psychiatrie würde finanziell gegenüber der übrigen Medizin benachteiligt. Deshalb gebe es zuwenig Psychiater. In Japan beispielsweise, habe ihm ein dortiger Kollege gesagt, sehe der Psychiater 120 Patienten am Tag. Das erscheint mir zwar etwas übertrieben, aber nun gut. Diese hohe Zahl soll wohl illustrieren, dass unter diesen Umständen Psychotherapie kaum möglich ist. Für ein Gespräch bleibe da nur noch eine halbe Minute! Man rechne: 120 mal eine halbe Minute = 60 Minuten. Also: ein Tag hat 60 Minuten.
q.e.d.

Ich will nicht näher auf diesen ....schen Versprecher eingehen. Es scheint mir doch eher langweilig und wenig attraktiv, sich selbst zu bemitleiden. Es macht unseren Beruf auch nicht besonders sexy, wenn wir dauernd betonen, wie wenig wir im Vergleich zu unseren Arztkollegen verdienen.

Nein, im Gegenteil, ich will für die Psychiatrie werben, weil sie ein unglaublich wichtiger Beruf ist. Und: unsere Gesellschaft benötig Psychiater. Zwar ist die Schweiz in dieser Hinsicht weltweit äusserst privilegiert. Die Anzahl Psychiater pro 100'000 Einwohner in der Schweiz beträgt fast dreimal soviel wie der OECD-Durchschnitt, nämlich 40, und viermal so viel wie im zitierten Japan. Sie nimmt damit weltweit den absoluten Spitzenplatz ein. Die meisten OECD-Länder bieten hingegen 10-20 Psychiater pro 100'000 Einwohner an. Global ist für die Hälfte der Einwohner nur ein Psychiater für 200'000 Einwohner aufgestellt, in Japan sind es immerhin rund 20mal soviele.

Die entscheidende Ziffer aber ist der treatment gap. Das ist die Differenz zwischen Bedarf und Angebot. Zwischen 76% und 85% der Menschen mit schweren psychischenStörungen in den armen Ländern der Welt erhalten keine Behandlung für ihre Erkrankung! In den high-income countries sind es doch noch zwischen 35% und 50%.
Dies hat einerseits tatsächlich mit dem Stigma zu tun, auf das Benjamin Dubno richtigerweise hinweist. Mehr noch als dieses ist der treatment gap aber wahrscheinlich Folge der ungleichen und ineffizienten Verteilung der psychiatrischen Angebote. Ein übermässig hoher Anteil der finanziellen Ressourcen wird auf die psychiatrischen Kliniken verteilt. Mit 67% ist er in den low- und middle-income countries besonders hoch.
"Weshalb soll ich mich zur Behandlung meiner psychischen Erkrankung in eine Klinik begeben, wenn ich dadurch noch mehr stigmatisiert werde und ausserdem Gefahr laufe, Menschenrechtsverletzungen zu erleiden?" Zudem ist bekannt, dass der Behandlungserfolg in psychiatrischen Kliniken in der Regel zu wünschen übrig lässt.
Aus diesen Gründen hat die WHO im vergangenen Mai 2013 den Comprehensive Mental Health Action Plan 2013-2020 erarbeitet und allen Mitgliedsländern dringend vorgeschlagen, diesen umzusetzen. Mit Bundesrat Berset war auch die Schweiz bei der Verabschiedung zugegen. Der Plan sieht unter anderem vor, dass die Bevorzugung der stationären Behandlungen abgebaut und dafür mehr leicht zugängliche ambulante Angebote geschaffen werden.
Genau das hat die Schweiz in den letzten Jahren versäumt. Zwar gab es mit "ambulant vor stationär" ein Lippenbekenntnis. Gleichzeitig aber wurde den benötigten Spezialisten der Zugang in die Praxis verwehrt, was zu einem "Stau" in den Kliniken führte. Teilweise wurden in den Kliniken aus diesem Grund Oberarztstellen blockiert, da es keinen "Abfluss" mehr gab in die Privatpraxen. Eine Folge davon ist der heutige Nachwuchsmangel.
Ein weiterer Grund ist, scheint mir, das jahrzehntelange Desinteresse der schweizer Psychiater an ihrer eigenen Berufsidentität gewesen. Nur punktuell traten in der schweizer Psychiatriegeschichte Lichtgestalten auf. Da ist zuerst Eugen Bleuler zu nennen, der aus der unheilbaren und grauenvollen Dementia praecox eine behandelbare Schizophrenie gemacht hat und damit die Verantwortung der Psychiatrie für die Entstigmatisierung der Psychiatrie übernommen hat!

Die Schweiz ist nur ein kleiner Fleck auf der Weltkarte der Psychiatrie! In der internationalen Lehre und Forschung zum Verständnis dieser leidvollen Erkrankungen, in die Psychopharmakotherapie und Psychotherapie, in der Sozialpsychiatrie ist heute viel Erkenntniszuwachs und Bewegung gekommen, so dass es sich heute mehr denn je lohnt, sich für dieses interessante Fach zu engagieren. Es ist ein zugleich komplexeres wie dankbareres Fach, ein Lichtblick, und mit einer zunehmenden Spezialisierung und Subspezialierungist  die Psychiatrie endlich auch ein hoch anspruchsvolles Handwerk, eine techné, geworden.



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