Auf der Google-Suche nach der Bedeutung von ‚Serendipity’ findet man
nebst Wikipedia-Einträgen auch einen Link zu einem coolen dänischen Modelabel, ‚serendipity
ORGANICS’, mit wunderbarer und komfortabler organischer Kinderkleidung im
skandinavischen Stil. Und weiter: Der grossartige John Cusack spielt 2001 in
einer romantischen Komödie mit dem Titel ‚serendipity’ über Finden, Verlieren
und Wiederfinden. Es gibt auch eine Blog-Software mit dem Namen ‚serendipity’ –
im 21. Jahrhundert scheint ‚serendipity’ ein verbreiteter kultureller Code zu
sein!
Als ich das Wort Mitte der 80-er Jahre erstmals in einer Pariser Wohnung
im 18. Arrondissement fand, gab es ‚Google’ noch nicht (da es erst 10 Jahre
später ‚erfunden’ wurde), und ich versuchte damals , die Bedeutung dieses
geheimnisvollen Wortes mühsamst in zahlreichen Enzyklopädien zu ergründen und
zu studieren. Von ‚serendipity’ ging etwas zauberhaft-magisches, mehr noch:
eine Art höhere Weisheit oder künstlerische Haltung aus, da ich den Begriff in
meiner eigenen Unkenntnis von den Worten ‚serenity’ (lat. serenitas, will
heissen Heiterkeit und Gunst) und ‚pity’ (von lateinisch pietas, das heisst
also Milde, Sanftmut oder Gnade und Mitleid) herleitete und ihm deshalb eine gleichsam
wunderlich-esoterische, erkenntnistheoretische oder epistemologische Formel
zuschrieb und ihm bisweilen sogar eine transzendierende oder metaphysische
Bewusstseinsstufe zumessen mochte. Und war damit recht nah bei Aberglaube,
Magie und Synchronizität.
Der Begriff indessen ist selbst eine ‚serendipity’ (die deutsche
Übersetzung ‚Serendipität’ erfasst leider nicht die Konnotationen und die
Assonanz des englischen Wortes): es wurde mehrmals ‚wiederentdeckt’, zuerst vom
eigentlichen Entdecker und verband
damals schon empirische Wissenschaft und die Gnade des Zufalls. Der Gelehrte,
Schriftsteller und Briefeschreiber Horace Walpole, Sohn des ersten Premierministers
von Grossbritannien und 4. Earl of Orford, selbst auch Politiker, Künstler und Begründer des englischen
Landschaftsgartens schrieb 1754 an seinen Freund, den Botschafter Horace Mann:
„This discovery indeed is almost of that kind which I call serendipity,
a very expressive word, which as I have nothing better to tell you, I shall
endeavour to explain to you: you will understand it better by the derivation
than by the definition. I once read a silly fairy tale, called The Three
Princes of Serendip: as their highnesses travelled, they were always making
discoveries, by accidents and sagacity, of things they were not in quest of
...“
Die Geschichte, auf die Walpole verwies, war tatsächlich 1557 in Venedig
erschienen. Darin erlebten die Söhne des Königs von Serendip, einer Region im
heutigen Sri Lanka auf ihrer Reise in benachbarte Lande zahlreiche Abenteuer. Mich
dünkt es kein Zufall, dass diese Wortschöpfung in der Aufklärung, dem ‚siècle
des lumières’ entstanden war, in der ‚Götterdämmerung der Wissenschaft’
gewissermassen. Nach der
Walpole’schen Worterfindung verschwand es für 120 Jahre und wurde beinahe vergessen.
Erst 1875 schreib ein bibliophiler Chemiker, Edward Solly, einen Kommentar zu
Walpole, nämlich dass „Horace Walpole used the word serendipity to express a
particular kind of natural cleverness.“ ‚Cleverness’(Klugheit) und ‚sagacity’
(Scharfsinn) beim Finden, Entdecken und Erfinden also, ohne die keine
‚serendipity’ denkbar ist. Robert K. Merton, ein Soziologe (dieser hatte
offensichtlich eine Schwäche für das magisch-religiöse und prägte unter anderem
den Begriff der self-fulfilling prophecy), ging dann in 1930-er und 40-er Jahren
diesem Begriff nochmals nach und begründete mit dem Buch ,The Travels and Adventures of Serendipity: A
Study in Sociological Semantics and the Sociology of Science’ dessen weltweite
Verbreitung. Allerdings ist der rege Gebrauch und die Verwendung als
soziokultureller Gemeinplatz erst seit den späten 1980-er und 90-er Jahren zu
verzeichnen: Bei der Google-Suche zu ‚serendipity’ finde ich heute, 2013,
ungefähr 13'800'000 Ergebnisse!
Die Entdeckung vieler Vorläufer der heute
gebräuchlichen Psychopharmaka, die in der Zeit zwischen 1940 und 1960
entwickelt wurden, sollen ‚serendipitous’ gewesen sein. Beispiele dafür sind
die Benzodiazepine, das Chlorpromazin, Imipramin und Lithium, aber auch das
1938 durch den Sandoz-Chemiker Albert Hofmann synthetisierte Lysergsäurediethylamid
(LSD) (siehe auch sein berühmtes Buch: LSD – mein Sorgenkind. Die Entdeckung
einer „Wunderdroge). ‚Serendipity’ in der Entwicklung von neuen Wirkstoffen
impliziert also die Entdeckung einer Sache, während man eigentlich nach etwas
anderem sucht. Tatsächlich soll ‚serendipity’ einer der Faktoren sein, der zur
Entdeckung von neuen Arzneimitteln (‚drugs’) führe, wobei gerade diese Annahme
auch von vielen Wissenschaftlern bestritten wird. Wahrscheinlich liesse sich
dieses Missverständnis (und der damit verbundene Streit) leicht beilegen, wenn man
sich in der Begriffsbedeutung und deren Implikationen einigen könnte.
Lassen wir es unideologisch angehen: wenn es um ein entweder-oder
zwischen reiner, quasi-magischer Zufallsentdeckung als Forschungsprinzip und Wissenschaftlichkeit gehen
würde, dann – so die Schlussfolgerung – könnte man ja eigentlich gut auf die langwierige empirische und
wissenschaftliche Forschung verzichten. Nun, so ist es nicht. Bei allen
Entdeckungen in der Psychopharmakologie, die einer ‚serendipity’ zugeschrieben
werden, war nebst der Gnade des Zufalls immer auch ein kluges,
arbeitsintensives Forschen involviert. Die heutige Wissenschaft wehrt sich –
wahrscheinlich auch mit Recht – dagegen, ‚serendipity’ als programmatische
Voraussetzung von Forschung zu akzeptieren. Und tatsächlich: das Finden (versus
‚designing’) kann nur Ziel oder Zweck, nicht aber Methode oder Programm sein!
Die Kunst ergibt sich wohl dadurch, dass man im Suchen nach einer Sache nicht
blind wird für das Auffinden einer anderen oder dieses gar unterdrückt (was man
als ‚bahramdipity’ bezeichnen könnte). Tatsächlich ist darin eine
Widersprüchlichkeit enthalten: was soll denn mit der ursprünglichen Suche nach
einem Wissensschatz geschehen, wenn man etwas anderes – vielleicht viel
schöneres – gefunden hat?
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