Samstag, 2. November 2013

Serendipity und Psychiatrie

Auf der Google-Suche nach der Bedeutung von ‚Serendipity’ findet man nebst Wikipedia-Einträgen auch einen Link zu einem coolen dänischen Modelabel, ‚serendipity ORGANICS’, mit wunderbarer und komfortabler organischer Kinderkleidung im skandinavischen Stil. Und weiter: Der grossartige John Cusack spielt 2001 in einer romantischen Komödie mit dem Titel ‚serendipity’ über Finden, Verlieren und Wiederfinden. Es gibt auch eine Blog-Software mit dem Namen ‚serendipity’ – im 21. Jahrhundert scheint ‚serendipity’ ein verbreiteter kultureller Code zu sein!
Als ich das Wort Mitte der 80-er Jahre erstmals in einer Pariser Wohnung im 18. Arrondissement fand, gab es ‚Google’ noch nicht (da es erst 10 Jahre später ‚erfunden’ wurde), und ich versuchte damals , die Bedeutung dieses geheimnisvollen Wortes mühsamst in zahlreichen Enzyklopädien zu ergründen und zu studieren. Von ‚serendipity’ ging etwas zauberhaft-magisches, mehr noch: eine Art höhere Weisheit oder künstlerische Haltung aus, da ich den Begriff in meiner eigenen Unkenntnis von den Worten ‚serenity’ (lat. serenitas, will heissen Heiterkeit und Gunst) und ‚pity’ (von lateinisch pietas, das heisst also Milde, Sanftmut oder Gnade und Mitleid) herleitete und ihm deshalb eine gleichsam wunderlich-esoterische, erkenntnistheoretische oder epistemologische Formel zuschrieb und ihm bisweilen sogar eine transzendierende oder metaphysische Bewusstseinsstufe zumessen mochte. Und war damit recht nah bei Aberglaube, Magie und Synchronizität.
Der Begriff indessen ist selbst eine ‚serendipity’ (die deutsche Übersetzung ‚Serendipität’ erfasst leider nicht die Konnotationen und die Assonanz des englischen Wortes): es wurde mehrmals ‚wiederentdeckt’, zuerst vom eigentlichen Entdecker  und verband damals schon empirische Wissenschaft und die Gnade des Zufalls. Der Gelehrte, Schriftsteller und Briefeschreiber Horace Walpole, Sohn des ersten Premierministers von Grossbritannien und 4. Earl of Orford,  selbst auch Politiker, Künstler und Begründer des englischen Landschaftsgartens schrieb 1754 an seinen Freund, den Botschafter Horace Mann:
„This discovery indeed is almost of that kind which I call serendipity, a very expressive word, which as I have nothing better to tell you, I shall endeavour to explain to you: you will understand it better by the derivation than by the definition. I once read a silly fairy tale, called The Three Princes of Serendip: as their highnesses travelled, they were always making discoveries, by accidents and sagacity, of things they were not in quest of ...“
Die Geschichte, auf die Walpole verwies, war tatsächlich 1557 in Venedig erschienen. Darin erlebten die Söhne des Königs von Serendip, einer Region im heutigen Sri Lanka auf ihrer Reise in benachbarte Lande zahlreiche Abenteuer. Mich dünkt es kein Zufall, dass diese Wortschöpfung in der Aufklärung, dem ‚siècle des lumières’ entstanden war, in der ‚Götterdämmerung der Wissenschaft’ gewissermassen.  Nach der Walpole’schen Worterfindung verschwand es für 120 Jahre und wurde beinahe vergessen. Erst 1875 schreib ein bibliophiler Chemiker, Edward Solly, einen Kommentar zu Walpole, nämlich dass „Horace Walpole used the word serendipity to express a particular kind of natural cleverness.“ ‚Cleverness’(Klugheit) und ‚sagacity’ (Scharfsinn) beim Finden, Entdecken und Erfinden also, ohne die keine ‚serendipity’ denkbar ist. Robert K. Merton, ein Soziologe (dieser hatte offensichtlich eine Schwäche für das magisch-religiöse und prägte unter anderem den Begriff der self-fulfilling prophecy), ging dann in 1930-er und 40-er Jahren diesem Begriff nochmals nach und begründete mit dem Buch ,The Travels and Adventures of Serendipity: A Study in Sociological Semantics and the Sociology of Science’ dessen weltweite Verbreitung. Allerdings ist der rege Gebrauch und die Verwendung als soziokultureller Gemeinplatz erst seit den späten 1980-er und 90-er Jahren zu verzeichnen: Bei der Google-Suche zu ‚serendipity’ finde ich heute, 2013, ungefähr 13'800'000 Ergebnisse!
 Die Entdeckung vieler Vorläufer der heute gebräuchlichen Psychopharmaka, die in der Zeit zwischen 1940 und 1960 entwickelt wurden, sollen ‚serendipitous’ gewesen sein. Beispiele dafür sind die Benzodiazepine, das Chlorpromazin, Imipramin und Lithium, aber auch das 1938 durch den Sandoz-Chemiker Albert Hofmann synthetisierte Lysergsäurediethylamid (LSD) (siehe auch sein berühmtes Buch: LSD – mein Sorgenkind. Die Entdeckung einer „Wunderdroge). ‚Serendipity’ in der Entwicklung von neuen Wirkstoffen impliziert also die Entdeckung einer Sache, während man eigentlich nach etwas anderem sucht. Tatsächlich soll ‚serendipity’ einer der Faktoren sein, der zur Entdeckung von neuen Arzneimitteln (‚drugs’) führe, wobei gerade diese Annahme auch von vielen Wissenschaftlern bestritten wird. Wahrscheinlich liesse sich dieses Missverständnis (und der damit verbundene Streit) leicht beilegen, wenn man sich in der Begriffsbedeutung und deren Implikationen einigen könnte.

Lassen wir es unideologisch angehen: wenn es um ein entweder-oder zwischen reiner, quasi-magischer Zufallsentdeckung als Forschungsprinzip und Wissenschaftlichkeit gehen würde, dann – so die Schlussfolgerung – könnte man ja eigentlich gut auf die langwierige empirische und wissenschaftliche Forschung verzichten. Nun, so ist es nicht. Bei allen Entdeckungen in der Psychopharmakologie, die einer ‚serendipity’ zugeschrieben werden, war nebst der Gnade des Zufalls immer auch ein kluges, arbeitsintensives Forschen involviert. Die heutige Wissenschaft wehrt sich – wahrscheinlich auch mit Recht – dagegen, ‚serendipity’ als programmatische Voraussetzung von Forschung zu akzeptieren. Und tatsächlich: das Finden (versus ‚designing’) kann nur Ziel oder Zweck, nicht aber Methode oder Programm sein! Die Kunst ergibt sich wohl dadurch, dass man im Suchen nach einer Sache nicht blind wird für das Auffinden einer anderen oder dieses gar unterdrückt (was man als ‚bahramdipity’ bezeichnen könnte). Tatsächlich ist darin eine Widersprüchlichkeit enthalten: was soll denn mit der ursprünglichen Suche nach einem Wissensschatz geschehen, wenn man etwas anderes – vielleicht viel schöneres – gefunden hat?

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