Vom medizinischen Standpunkt
aus gesehen, war ich eine Katastrophe! In meinem Leben war ich mehr als drei
Dutzend Male hospitalisiert. Dreimal las man mir die Sterbesakramente. Schon in
meinen Dreissigern fanden sich bei mir Anzeichen von Nebenniereninsuffizienz.
Seit meinem 38. Lebensjahr wurde ich wegen einer Schilddrüsenunterfunktion
behandelt.
Erst viele Jahre später
konnte die wahrscheinlich korrekte Diagnose gestellt werden: ich litt am
autoimmun polyglandulären Syndrom Typ 2, kurz APS-2. APS-2 hat eine
polygenetische Ursache und beinhaltet ein autoimmunes Nebennnierenversagen
zusammen mit einer autoimmun bedingten Schilddrüsenerkrankung oder einem Typ-1
Diabetes. Oft werden noch zusätzliche Erkrankungen diagnostiziert. In meinem
Fall hatte man zwar über Jahre sowohl die Schilddrüsen- wie auch die
Nebennierenerkrankung und weitere Erkrankungen diagnostiziert: man hatte jedoch
weder die Ursache noch den Zusammenhang erkannt.
Schon als kleines Kind war
ich oft kränklich: ich hatte Scharlach, woran ich fast starb. Ich hatte Masern,
Keuchhusten und auch später viele Bronchitiden und Infektionen der oberen
Luftwege. Ich litt an Gelbsucht. Trotzdem liebte ich den Sport. Mein
körperlicher Zustand war dem aber nicht gewachsen, so dass ich zweifellos
übermässig viele, zum Teil auch schwere Sportverletzungen davon trug. Mit 16
wurden meine Mandeln entfernt. Schon mit 13 war ich weitsichtig, was eher
ungewöhnlich ist für dieses Alter. Seit meinem 17. Lebensjahr litt ich unter
Magen-Darm-Problemen. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang dieser schweren
Darmentzündungen (u.a. litt ich an einem Geschwür des Zwölffingerdarms), die
auch mit Steroiden behandelt wurden, mit meiner Grunderkrankung, der APS-2. Ich
musste Unmengen essen und Sport treiben, um mein Gewicht halten zu können. Ich
war sonst eher mager gewesen, was meine Mutter mit Besorgnis beobachtete. In
ihrem Tagebuch beschrieb sie mich deshalb mit dem ‚lincolnesque look’ (der ihr
im Geheimen besser gefallen habe). Während meiner ganzen Amtszeit nahm ich
täglich Testosteron-Tabletten: um mein Gewicht zu halten, aber möglicherweise
auch als Folge meiner Cortison-Medikation und meiner Grunderkrankung, obwohl
mein Testosteronspiegel offensichtlich doch hoch genug war, um 4 Kinder zu
zeugen. Wiederholt litt ich unter Anämie. Seit meinem 21. Lebensjahr litt ich
unter Rückenproblemen, die sich stetig verschlimmerten, so dass ich
schliesslich ein Korsett tragen musste. Mein Arzt verbot mir das Schwimmen,
nachdem ich mir im Krieg Verletzungen zugezogen hatte, als unser Schiff von
einem Zerstörer versenkt worden war, und ich an Land schwimmen musste. Ich
brauchte 10 Tage, um mich von der schweren Erschöpfung wieder zu erholen.
Auch im Wahlkampf war ich
immer nahe an der Erschöpfung. Nach meiner Wahl zitterten meine Hände an der
Pressekonferenz. Auch diesmal brauchte ich 2 Wochen, um mich davon zu erholen. Dennoch
war es mir gelungen, mich vor den Wahlen als jugendlichen, sportlichen und
dynamischen Kandidaten zu präsentieren. Heute wird allerdings bezweifelt, ob es
richtig war von mir, dass ich den Wähler meinen schwer kranken Zustand
verheimlicht hatte. Es ist tatsächlich sehr wahrscheinlich, dass ich nie
gewählt worden wäre, wenn ich ihnen die genaueren Umstände meines
Gesundheitszustandes nicht vorenthalten hätte. Ich litt sogar unter
Depressionen und wochenlangem Durchfall, nachdem ich meine grösste politische
Niederlage erlitten hatte. Ich nahm nebst den schon erwähnten eine Vielzahl von
Medikamenten ein, unter anderem auch Antidepressiva.
Dennoch war mein Leben von
unvergleichlichem Erfolg gekennzeichnet. Auf dem Höhepunkt meiner politischen
Laufbahn unterzeichnete ich eine Gesetzesvorlage, die noch heute diskutiert
wird und in meinem Land den Beginn der Deinstitutionalisierung der Psychiatrie
begründete und die Voraussetzung für eine gemeindezentrierte Versorgung der
psychisch Kranken schuf. Ich hatte nämlich verstanden, nicht zuletzt aufgrund meiner
Biographie und von Schicksalsschlägen in meiner eigenen Familie, dass die
psychischen Erkrankungen und die geistigen Behinderungen in unserem staatlichen Gesundheitswesen die grössten
Herausforderungen darstellten. Vor allem aber hatte ich auch verstanden, dass
das öffentliche Verständnis für die psychischen Erkrankungen, deren Prävention
und Behandlung, nicht mit den Fortschritten der Medizin in den letzten
Jahrzehnten Schritt gehalten hatten. Die Stigmatisierung hatte zur Folge, dass zur
damaligen Zeit 600'000 Menschen wegen einer psychischen Erkrankung und 200'000
wegen einer geistigen Behinderung in den nationalen Institutionen auf Dauer
versorgt waren. Ein Grossteil davon war eingesperrt und wurde mit antiquierten
Methoden behandelt. Ich musste lernen, dass diese Erkrankungen für die
Betroffenen und deren Familien dauerhaftes Leid bedeutete. Leider konnten diese
Pläne bis heute nie ganz umgesetzt werden. Man strich viele stationäre Betten,
ohne die dringend notwendige dezentralisierte Behandlung in den Gemeinden
gewährleisten zu können. Glücklicherweise kämpft mein Neffe heute weiter, um
das Stigma psychischer Erkrankungen zu überwinden.
Wer bin ich?
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