Samstag, 9. November 2013

Who am I - Wer bin ich?

Vom medizinischen Standpunkt aus gesehen, war ich eine Katastrophe! In meinem Leben war ich mehr als drei Dutzend Male hospitalisiert. Dreimal las man mir die Sterbesakramente. Schon in meinen Dreissigern fanden sich bei mir Anzeichen von Nebenniereninsuffizienz. Seit meinem 38. Lebensjahr wurde ich wegen einer Schilddrüsenunterfunktion behandelt.
Erst viele Jahre später konnte die wahrscheinlich korrekte Diagnose gestellt werden: ich litt am autoimmun polyglandulären Syndrom Typ 2, kurz APS-2. APS-2 hat eine polygenetische Ursache und beinhaltet ein autoimmunes Nebennnierenversagen zusammen mit einer autoimmun bedingten Schilddrüsenerkrankung oder einem Typ-1 Diabetes. Oft werden noch zusätzliche Erkrankungen diagnostiziert. In meinem Fall hatte man zwar über Jahre sowohl die Schilddrüsen- wie auch die Nebennierenerkrankung und weitere Erkrankungen diagnostiziert: man hatte jedoch weder die Ursache noch den Zusammenhang erkannt.
Schon als kleines Kind war ich oft kränklich: ich hatte Scharlach, woran ich fast starb. Ich hatte Masern, Keuchhusten und auch später viele Bronchitiden und Infektionen der oberen Luftwege. Ich litt an Gelbsucht. Trotzdem liebte ich den Sport. Mein körperlicher Zustand war dem aber nicht gewachsen, so dass ich zweifellos übermässig viele, zum Teil auch schwere Sportverletzungen davon trug. Mit 16 wurden meine Mandeln entfernt. Schon mit 13 war ich weitsichtig, was eher ungewöhnlich ist für dieses Alter. Seit meinem 17. Lebensjahr litt ich unter Magen-Darm-Problemen. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang dieser schweren Darmentzündungen (u.a. litt ich an einem Geschwür des Zwölffingerdarms), die auch mit Steroiden behandelt wurden, mit meiner Grunderkrankung, der APS-2. Ich musste Unmengen essen und Sport treiben, um mein Gewicht halten zu können. Ich war sonst eher mager gewesen, was meine Mutter mit Besorgnis beobachtete. In ihrem Tagebuch beschrieb sie mich deshalb mit dem ‚lincolnesque look’ (der ihr im Geheimen besser gefallen habe). Während meiner ganzen Amtszeit nahm ich täglich Testosteron-Tabletten: um mein Gewicht zu halten, aber möglicherweise auch als Folge meiner Cortison-Medikation und meiner Grunderkrankung, obwohl mein Testosteronspiegel offensichtlich doch hoch genug war, um 4 Kinder zu zeugen. Wiederholt litt ich unter Anämie. Seit meinem 21. Lebensjahr litt ich unter Rückenproblemen, die sich stetig verschlimmerten, so dass ich schliesslich ein Korsett tragen musste. Mein Arzt verbot mir das Schwimmen, nachdem ich mir im Krieg Verletzungen zugezogen hatte, als unser Schiff von einem Zerstörer versenkt worden war, und ich an Land schwimmen musste. Ich brauchte 10 Tage, um mich von der schweren Erschöpfung wieder zu erholen.
Auch im Wahlkampf war ich immer nahe an der Erschöpfung. Nach meiner Wahl zitterten meine Hände an der Pressekonferenz. Auch diesmal brauchte ich 2 Wochen, um mich davon zu erholen. Dennoch war es mir gelungen, mich vor den Wahlen als jugendlichen, sportlichen und dynamischen Kandidaten zu präsentieren. Heute wird allerdings bezweifelt, ob es richtig war von mir, dass ich den Wähler meinen schwer kranken Zustand verheimlicht hatte. Es ist tatsächlich sehr wahrscheinlich, dass ich nie gewählt worden wäre, wenn ich ihnen die genaueren Umstände meines Gesundheitszustandes nicht vorenthalten hätte. Ich litt sogar unter Depressionen und wochenlangem Durchfall, nachdem ich meine grösste politische Niederlage erlitten hatte. Ich nahm nebst den schon erwähnten eine Vielzahl von Medikamenten ein, unter anderem auch Antidepressiva.

Dennoch war mein Leben von unvergleichlichem Erfolg gekennzeichnet. Auf dem Höhepunkt meiner politischen Laufbahn unterzeichnete ich eine Gesetzesvorlage, die noch heute diskutiert wird und in meinem Land den Beginn der Deinstitutionalisierung der Psychiatrie begründete und die Voraussetzung für eine gemeindezentrierte Versorgung der psychisch Kranken schuf. Ich hatte nämlich verstanden, nicht zuletzt aufgrund meiner Biographie und von Schicksalsschlägen in meiner eigenen Familie, dass die psychischen Erkrankungen und die geistigen Behinderungen in unserem staatlichen  Gesundheitswesen die grössten Herausforderungen darstellten. Vor allem aber hatte ich auch verstanden, dass das öffentliche Verständnis für die psychischen Erkrankungen, deren Prävention und Behandlung, nicht mit den Fortschritten der Medizin in den letzten Jahrzehnten Schritt gehalten hatten. Die Stigmatisierung hatte zur Folge, dass zur damaligen Zeit 600'000 Menschen wegen einer psychischen Erkrankung und 200'000 wegen einer geistigen Behinderung in den nationalen Institutionen auf Dauer versorgt waren. Ein Grossteil davon war eingesperrt und wurde mit antiquierten Methoden behandelt. Ich musste lernen, dass diese Erkrankungen für die Betroffenen und deren Familien dauerhaftes Leid bedeutete. Leider konnten diese Pläne bis heute nie ganz umgesetzt werden. Man strich viele stationäre Betten, ohne die dringend notwendige dezentralisierte Behandlung in den Gemeinden gewährleisten zu können. Glücklicherweise kämpft mein Neffe heute weiter, um das Stigma psychischer Erkrankungen zu überwinden. 
Wer bin ich?

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