Samstag, 26. Oktober 2013

Antidepressiva - Von Angel Dust zu Ketamin

,But it was all too much sprinkling angel dust to A.T. and T., who didn't wish you well, oh oh oh, you keep hangin' 'round me‘. 
Das sang Lou Reed 6 Jahre, bevor sich das National Institute on Drug Abuse entschloss, im Februar 1978 in Pacific Grove, Kalifornien, eine Konferenz über den Missbrauch von Phencyclidine abzuhalten.  
Phencyclidine, oder Angel Dust, wie ein Strassenname lautete, war schon seit Mitte der 60-er Jahre im Handel auf der Strasse (erstmals im Haight-Ashbury Distrikt in San Francisco 1967) und hatte einen denkbar schlechten Ruf. Niemand hätte sich damals gedacht, dass es sich 10 Jahre später zu einer Droge der Wahl entwickeln würde. Innerhalb eines Jahres zwischen 1976 und 1977 verdoppelte sich der Konsum bei den 12- bis 17-jährigen. Zwischen 1974 und 1976 hatte sich auch die Anzahl der Notfallzuweisungen verdoppelt. Ähnlich verlief der Trend bei den Todesfällen, wobei Fälle durch Ertrinken besonders häufig vorkamen. 
Phencyclidine hatte viele Strassennamen: von angel dust zu crystal, horse tranquilizer, killer weed oder super weed bis rocket fuel. Oft waren sich die Konsumenten des Wirkstoffinhalts nicht bewusst und nutzten es deshalb zusammen mit Barbituraten, Heroin oder Kokain, aber auch mit LSD, Mescalin oder Amphetamin. 
Selten wurde Phencyclidine (PCP) intravenös injiziert. Häufiger wurde es als ,Joint‘ geraucht oder als in flüssiges Menthol eingetauchte Zigarette (,superkools‘). ,Superpot‘ sollte suggerieren, dass die Wirkung stärker war als Marihuana und eher mit LSD vergleichbar. Möglich ist auch die orale oder pernasale Einnahme (,Sniffen‘). 

Phencyclidine ruft verschiedenartige Wirkungen hervor. Es handelt sich um stimulierende, relaxierende, halluzinogene und analgetische Eigenschaften, die dosisabhängig sind. Ein Vorschlag für eine Klassifikation lautete ,dissoziatives Anästhetikum‘. Die zentralnervösen Effekte äussern sich in einer Art Trunkenheitszustand in tiefen Dosierungen. In mittleren Dosen wird eine Analgesie und Anästhesie erzeugt. Ein psychischer Status, der einer sensorischen Isolation ähnelt, kann erzielt werden. Auch kataleptiforme motorische Reaktionen tauchen vereinzelt auf. In hohen Dosen kommt es zu Krämpfen. Zusätzlich finden sich sympathomimetische Effekte mit Erhöhung von Herzfrequenz und Blutdrucksteigerung. 
Phencyclidine kann relativ einfach hergestellt werden. Die Ausgangsstoffe sind problemlos erhältlich und unterliegen nur geringfügigen Kontrollen.
Ronald K. Siegel, den Oliver Sacks als massgeblichen Experten für Halluzinogene schätzte (,there is no one around who knows more about hallucinations than Ronald K. Siegel‘), untersuchte in einer Studie 319 Probanden, die regelmässig PCP konsumierten. Ihn interessierte, weshalb PCP trotz seiner bekannten negativen Wirkungen (z.B. schizophrenomimetische Wirkungen wie prolongierte Psychosen) wiederholt und anhaltend angewendet wurde. 94% berichteten über erhöhte Sensititivität für externe Stimuli, 92% beschrieben eine stimulierende, 88% eine dissoziative und immerhin 61% eine stimmungsaufhellende Wirkung. 

Nebst Phencyclidin wurden im Verlauf der Jahre unzählige chemisch verwandte Analoga synthetisiert, die im Strassenhandel geläufig waren. 1976 wurde im Film ,Family Plot‘ von Alfred Hitchcock ein Entführungsopfer mit einer damals noch wenig bekannten Droge namens Ketamin sediert. Parke Davis and Company hatte Ketamin als Anästhetikum entwickelt, nachdem PCP in der Anästhesie bei chirurgischen Prozeduren nicht das gewünschte Wirkungsprofil erzielt hatte. Ketamin wurde enthusiastisch gelobt als non-barbiturat Anästhetikum  mit einer raschen Wirkung, tiefer Analgesie, normalen pharyngolaryngealen Reflexen, beinahe normalem Muskeltonus, kardiovaskulärer und respiratorischer Stimulation und nur gelegentlicher Atemdepression. Doenicke und Mitarbeiter fanden bei ihren Patienten und Probanden analgetische Effekte wie auch Depersonalisations- und Derealisationsphänomene, Veränderungen in ihrem Körperbild, Übelkeit, Schwindel, Träume und Halluzinationen. Die meisten erlebten ihre Traumzustände und Halluzinationen als angenehm. In den Berichten von Rumpf und dessen Kollegen wurden die Halluzinationen als ,utopisch‘, ,phantastisch‘, ,unwirklich‘ oder ,rätselhaft‘ beschrieben. In einer Studie von Collier (1972) wurden die meisten Ketamin-Träume oder -halluzinationen ebenfalls als angenehm und als intensiv bewertet.  Im Traum eines Patienten stieg dieser auf in den Himmel, sah Gott und wurde schliesslich in Italien reinkarniert. Grüne Farben, Leuchtkraft, Ruhe und Euphorie bestimmten die Traumsequenz. Offenbar war die lebhafte Erinnerung an den Traum bei diesem Patienten dauerhaft. 

John Krystal, Psychiatrieprofessor in Yale, konnte im Jahr 2000 erstmals den signifikanten antidepressiven Effekt von intravenösen Ketamininfusionen nachweisen. Diese Entdeckung zog eine ganze Reihe von weiteren Studien zur antidepressiven Wirkung von Ketamin nach sich. Durchgehend konnte ein rascher Wirkungseintritt nachgewiesen werden. Ein Grund für das Zögern der Psychiatrie ist das Risiko einer Verbreitung von missbräuchlicher Anwendung im Falle einer Einführung in den klinischen Gebrauch. 
Darüberhinaus wurde mit dem NMDA (N-methyl-D-aspartat)-Rezeptor-Antagonismus ein neuer antidepressiver Wirkmechanismus postuliert und damit weitere Forschungsanstrengungen zur Untersuchung dieses Mechanismus auf den Weg gebracht. Erstmals seit vielen Jahren auch wurde damit eine valable Alternative zur sogenannten Aminhypothese vorgeschlagen. Diese hatte die Entwicklung einer Vielzahl von Antidepressiva, namentlich der trizyklischen, der neueren SSRI und SNRI bestimmt und in den letzten Jahren aber auch in eine psychopharmakologische Sackgasse geführt, da eine Weiterentwicklung dieser Medikamentenklasse unter den heutigen Voraussetzungen eher unwahrscheinlich erscheint. 

Nun ist mit dem Ketamin wieder Hoffnung aufgetaucht für eine effektivere Behandlung der Depression und möglicherweise weiterer psychischer Erkrankungen.

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