1894 prägte der Wiener Neurologe und Psychiater Moritz Benedikt den Begriff 'Seelen-Binnenleben' als deutsche Übersetzung von ‘Second Life’ (ebenfalls eine seiner eigenen Begriffsschöpfungen!):
“Unter der glattesten Oberfläche des seelischen Daseins wogt und gährt nämlich ein seelisches Binnenleben, aus dessen Elementen, je nach der Anlage und der Entwicklung jedes Einzelnen, bunt durcheinander gewirbelte (“kaleidoskopische”) Bilder entstehen. Die Aeusserungen dieser Gehirnthätigkeit in Haltung und Minenspiel, in Worten und Handlungen enthalten für gewöhnlich nur ein kleines Bruchstück, das kaum dem scharfsinnigsten Seelenkenner das Ganze ahnen lässt.”
Das ‘Hineindenken’, Erahnen’, ‘Einfühlen’, ‘Mitfühlen’ und Erkennen der Gedanken, Gefühle und Absichten, die intuitive Einsicht in das ‘Binnenleben’ des Gegenübers wird als genuin anthropomorphe Leistung Empathie genannt. Die Erforschung der Empathie erfreut sich eines zunehmenden, gar exponentiell ansteigenden Interesses. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden jährlich nur etwa 5 wissenschaftliche Artikel zu diesem Thema publiziert, um die Jahrtausendwende waren es schon fast 500, und 2013 waren es erstmals über 1000 Beiträge!
Erst vor wenigen Jahren wurde eine Gruppe von Nervenzellen entdeckt, die sogenannten Spiegelneuronen, die mit den Phänomenen der Imitation und Empathie (besser eigentlich:Sym-pathie) in Verbindung gebracht werden.
In Untersuchungen in den 1990-ern war nämlich aufgefallen, dass gewisse Nervenzellen in der motorischen Grosshirnrinde eines Makaken sowohl dann aktiviert wurden, wenn dieser selbst eine gezielte Bewegung ausführte, als auch dann, wenn er die Bewegung lediglich bei einem anderen Makaken beobachtete.
Weitere Forschungen bestätigten in den letzten Jahren, dass das Spiegelneuronensystem auch beim Menschen und hier bei der Emotionserkennung eine zentrale Rolle spielt: ‚ich werde durch die Aktivität von Spiegelneuronen in meinem Gehirn in die Lage versetzt, Emotionen im Gesichtsausdruck meines Gegenübers mitzufühlen, indem ich sie sozusagen unbewusst emotional imitiere’. Das ist auch die physiologische Grundlage der emotionalen 'Ansteckung', wie sie in zahlreichen Untersuchungen von 'ansteckendem' Lachen oder Gähnen belegt wurde.
Naheliegend also, dass verschiedene Formen von Autismus mit einem beeinträchtigten Spiegelneuronensystem in Verbindung gebracht werden, da Autisten Schwierigkeiten haben und teilweise unfähig sind, mit anderen Menschen zu interagieren und am sozialen Leben teil zu nehmen.
„Neuronen, die die Zivilisation schufen“ nennt der indische Neurologe und Neurowissenschaftler Vilayanur S. Ramachandran die Spiegelneuronen in seinem äusserst unterhaltsamen Buch ‚The Tell-Tale Brain. Unlocking the Mystery of Human Nature’. Kultur bestehe aus grossen Kollektionen von Fertigkeiten und Wissen, die von einer Person auf die andere übertragen würden, und zwar über zwei zentrale Medien: Sprache und Imitation. Wir wären nichts ohne unsere aussergewöhnliche Begabung, andere zu imitieren. Akkurate Imitation indessen beruhe auf der einzigartigen menschlichen Fähigkeit – sowohl visuell als auch metaphorisch -, die Sichtweise des Anderen einzunehmen, was im Vergleich zu den Affen eine raffiniertere Anordnung der Spiegelneuronen erfordere. Die Fähigkeit, die Welt von eines anderen Standpunkt aus zu sehen, sei auch eine wesentliche Voraussetzung dafür, ein mentales Modell der komplexen Gedankenwelt und der Absichten einer anderen Person herzustellen, um ihr Verhalten vorher zu sagen (und zu manipulieren). Diese Fähigkeit, die dem Menschen eigen sei, heisst ‚Theory of Mind’.
Jaak Panksepp, der nimmer ruhende und eigentlich längst pensionierte Tierexperimentator, der schon in den 1970-er Jahren die Bedeutung opioiderger Rezeptoren im mütterlichen Bindungsverhalten nachwies, hält Empathie, insbesondere die emotionale Ansteckbarkeit, im Gegensatz zur anthropozentrischen Sichtweise, vielmehr für eine Eigenschaft sämtlicher Säugetiere und folgert daraus deren Befähigung zur Sorge um und für andere. Damit stellt er die moralische Kategorie der Fürsorge auf ein tierisches Fundament.
Ähnlich der Primatologe Frans de Waal, der zusammen mit Jennifer Pokorny 2012 mit dem Ig-Nobelpreis ausgezeichnet wurde für den Nachweis, dass Schimpansen ihre Artgenossen auch an Fotos ihres Hinterteils erkennen können (!): auch er hat in zahlreichen populärwissenschaftlichen Büchern – z.B. ‚Der Affe und der Sushimeister. Das kulturelle Leben der Tiere’ – die soziale Bedeutung von Empathie und Imitation bei Säugetierenbeschrieben, allen voran bei Schimpansen und Bonobos, und diese als eigentliche Voraussetzung der Befähigung zur Kultur postuliert. Seine Hypothesen werden durch ein reichhaltiges Repertoire an heiteren Erzählungen über empathische Verhaltensweisen bei Affen belegt. Seine Buchtitel verheissen bereits seine wissenschaftlich-politische Botschaft: ‚Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können’. Die menschliche Empathie verfüge über das Rückgrat einer langen Evolutionsgeschichte. Eben: ‚Greed is out, empathy is in’.
So sind auch viele psychische Störungen wie die Depression oder die Schizophrenie Erkrankungen an der Kultur, am menschlichen Zusammenleben: mannigfache Studien belegen Störungen der sozialen Kognition und solche der Emotionsverarbeitung bei der Schizophrenie. Eine neuere Studie von Laurie McCormick und Mitarbeitern beispielsweise, ‚Mirror neuron function, psychosis, and empathy in schizophrenia’, wies eine Steigerung der Aktivität von Spiegelneuronen bei Schizophrenen nach – als Folge des Zusammenbruchs der Grenzen zwischen Selbst und Anderen.
Die wahrscheinlich komplexen Zusammenhänge psychischer Erkrankungen mit dem Spiegelneuronensystem, der Empathie und damit dem Erleben und Verhalten in sozialen Kontexten sind heute noch nicht hinlänglich verstanden. Es ist aber davon auszugehen, dass sie in Zukunft noch mehr als heute schon die therapeutische Arbeit in der Psychiatrie gestalten werden.